Beowulf: Altenglische Literatur zwischen Heidentum und Christentum

Beowulf: Altenglische Literatur zwischen Heidentum und Christentum
Beowulf: Altenglische Literatur zwischen Heidentum und Christentum
 
Die altenglische Dichtung ist umfangreicher überliefert als alle anderen volkssprachlichen Literaturen des europäischen Frühmittelalters. Aus der Zeit zwischen dem späten 7. und 11. Jahrhundert sind (neben zahlreichen Prosatexten) nicht weniger als etwa 30 000 Verse erhalten, die sich auf sehr unterschiedliche Gattungen verteilen: weltliche und religiöse Epik, Heiligenlegenden, Lyrik, Kunsträtsel. Diese Dichtungen sind bis auf wenige Ausnahmen in vier großen Sammelhandschriften enthalten, die gegen Ende der altenglischen Zeit - um das Jahr 1000 - angelegt wurden. Viele altenglische Dichtungen sind im Spannungsfeld zwischen heidnischen und christlichen Traditionen entstanden. Dies ist umso verständlicher, als viele dieser Texte bereits im 8. Jahrhundert verfasst wurden - also erst kurze Zeit nach der Christianisierung der Angelsachsen.
 
Den heutigen Leser fasziniert die altenglische Lyrik, die zwar nur in einer geringen Anzahl von Gedichten, jedoch in poetisch eindrucksvoller Qualität repräsentiert ist. Die wertvollsten lyrischen Texte finden sich in der Gruppe der Elegien, die als zentrales Motiv einen Rückblick auf vergangene, glücklichere Zeiten enthalten und von einer tief melancholischen Stimmung geprägt sind. Als rein heidnische Stücke sind zu nennen: die von einer Frau vorgetragene Liebesklage »Wulf und Eadwacer« und die angesichts der verfallenen römischen Bäder von Aquae Sulis (das heutige Bath ) erhobene Klage um die »Ruine« (so der Titel des nur als Fragment erhaltenen Textes). Andere Elegien dagegen - wie »Seefahrer« und »Wanderer« - vereinen christliche Motive und Symbole der Vergänglichkeit mit heidnischem Schicksalsglauben und Gefolgschaftsdenken. Gänzlich unvermutet können einige der fast hundert altenglischen Rätsel als Gedichte gelten: In ihnen wird der enge Rahmen des verrätselten Textes gesprengt und durch die Schilderung einer lyrischen Situation erweitert - so in der eindringlichen Darstellung eines Sturmes auf offener See.
 
Das Prachtstück inmitten der schillernden Vielfalt altenglischer Dichtung bildet das 3182 stabreimende Langzeilen umfassende Epos »Beowulf« - aus zwei Gründen. Zum einen ist dieser vielleicht im 8. Jahrhundert entstandene Text das älteste volkssprachliche Epos des europäischen Mittelalters überhaupt. Zum anderen - und vor allem - ist dieses Epos ein Kunstwerk von hohen Ansprüchen, die man den »Dark Ages«, dem angeblich so finsteren Frühmittelalter, eigentlich nicht zutraut.
 
Im »Beowulf« geht es, wie es sich für ein Epos gehört, nicht um private Schicksale und Abenteuer einzelner Personen, sondern um die Existenz zweier Stämme (der Dänen und Gauten), vor allem um deren Bedrohung durch monströse Ungeheuer (Grendel und Drachen), und um die Errettung durch einen siegreichen Helden (Beowulf). Auch mit der Verwendung gehobener Sprache, die dem wichtigen Gegenstand angemessen ist, erfüllt der anonyme Autor des »Beowulf« eine traditionelle Forderung an epische Dichtung.
 
Doch darin unterscheidet sich der »Beowulf« von allen anderen Epen: dass es nicht um das Schicksal des eigenen Stammes oder Volkes geht. In diesem angelsächsischen Epos kommen Angelsachsen überhaupt nicht vor. Sein Personal rekrutiert sich aus Skandinaviern: Dänen und den im Süden Schwedens ansässigen Gauten. Und dementsprechend spielen sich die abenteuerlichen Ereignisse in Dänemark und Südschweden ab. Diese schwer erklärbare Merkwürdigkeit ist vielleicht auf frühe dynastische Verbindungen ostanglischer und skandinavischer Geschlechter zurückzuführen.
 
Die im »Beowulf« erzählten Geschichten verdanken ihre bis heute anhaltende Attraktivität der realistisch präzisen Darstellung fantastisch märchenhafter Ereignisse, in denen Fabelwesen und Magie eine zentrale Rolle spielen: »Fantasy« nennt man heute derartige Texte. Zwei Geschichten erzählt der Autor: den siegreichen Kampf des jungen Gauten Beowulf gegen das die Dänen bedrohende Monster Grendel sowie dessen Mutter - und den wiederum siegreichen Zweikampf des inzwischen fünfzig Jahre älteren Helden mit dem feuerspeienden, die Gauten heimsuchenden Drachen, in dessen Verlauf Beowulf jedoch tödlich verwundet wird. Die damit gegebene strukturelle Zweiteiligkeit des Textes wird durch zahlreiche, brillant gestaltete Abschweifungen - »Digressionen« - aufgelockert, die in der bewährten Tradition klassischer Epen erzählerischer Monotonie vorbeugen.
 
Zusätzlicher Reiz für den Zuhörer oder Leser entsteht durch die Mischung heidnischer und christlicher Elemente. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Weltsichten wird besonders in der Grendel-Geschichte deutlich. Dort wird der heidnische Volksglaube an im Moor oder unter Wasser hausende Trolle überlagert durch den christlichen Teufels- und Dämonenglauben: Das menschenfressende Ungeheuer Grendel wird zum »Feind aus der Hölle«, der zum »Stamme Kains« gehört.
 
Diese Christianisierung heidnischen Erzählguts ist so deutlich, dass einige Forscher - wohl in interpretatorischer Übertreibung - das »Beowulf«-Epos als christliche Allegorie deuten, in der Beowulf für Christus steht, der gegen den Satan kämpft und siegreich bleibt. Unstrittig dagegen ist eine symbolische Ausdeutung des Epos, durch die den abenteuerlichen Begebenheiten der Rang eines Kampfes gegen das Böse in der Welt beigemessen wird.
 
Beowulfs fabulöse Erlebnisse finden sich in der Nachbarschaft historisch belegbarer Ereignisse und Personen. Der Dänenkönig Hrothgar, der Beowulf gegen Grendel zu Hilfe ruft, taucht in mehreren Quellen auf. Und der im Epos erwähnte Überfall des Gautenherrschers Hygelac auf die Friesen ist als historisches Geschehen des Jahres 521 sicher belegt. Wahrscheinlich war der geschichtliche Rahmen des »Beowulf«-Epos weit stabiler, als wir heute wissen können. Die dürftige Quellenlage verleitet dazu, mangels historischer Auskünfte Legendäres anzunehmen, wo in Wirklichkeit Geschichtliches vorliegt.
 
Umso dankbarer begrüßen wir es, wenn durch neue Funde oder Erkenntnisse vermeintlich Erdichtetes sich - in einer Art Schliemann-Effekt - als historische Wahrheit entpuppt. Solche Erhellung brachte für das »Beowulf«-Epos die Freilegung des Schiffsgrabes von Sutton Hoo am Flussufer von Deben in Ostengland vor fast sechzig Jahren. Aufgrund dieser Entdeckung wird archäologisch bestätigt, was der »Beowulf«-Autor in dichterischer Freiheit beschrieb: die keineswegs karge Lebensart jener altenglischen Oberschicht, einer aristokratischen Kriegerkaste - die aufwendigen Schiffsbegräbnisse jener Zeit - das Nebeneinander christlicher und heidnischer Religion in früher altenglischer Zeit.
 
In der Grabkammer des Schiffes von Sutton Hoowar der ostanglische König Raedwald im Jahre 624 oder 625 bestattet worden. Nützliche und standesgemäße Beigaben sollten sein Leben im Jenseits erleichtern und verschönen: Standarte, Zepter, Waffen, Trink- und Essgefäße, Schmuck, Leier. Die Übereinstimmungen zwischen diesem kostbaren Grabschatz und dem im »Beowulf« enthaltenen »Inventar« der Beigaben zum Schiffsgrab des Dänenkönigs Scyld sind frappierend und bezeugen die wirklichkeitsnahe Darstellungsweise des »Beowulf«-Autors. Neben diesen für eine heidnische Jenseitsreise bestimmten Gegenständen findet sich unter den Beigaben des Fundes aber auch Christliches - charakteristisch für diese Zeit des Übergangs: ein Reliquiar, mit »Paulus« und »Saulus« signierte Tauflöffel und mit christlichen Symbolen versehene Silberschalen.
 
Welch einmaliger Glücksfall: Archäologischer Fund und dichterischer Text erhellen sich gegenseitig und lassen das außergewöhnlich detailreiche Bild einer frühmittelalterlichen Lebensform erstehen.
 
Prof. Dr. Theo Stemmler
 
 
Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.
 
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 6: Europäisches Frühmittelalter. Wiesbaden 1978—85.

Universal-Lexikon. 2012.

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